Antisemitismus – was ist das?
Antisemitismus ist eine Form der Ablehnung von jüdischem Leben, die sich in Worten oder Taten ausdrücken kann. Das Phänomen der Judenfeindlichkeit ist vielschichtig. Es erscheint etwa als religiös geprägter Antijudaismus, als ökonomisches, sozialpolitisches Argumentationsmuster oder als modernes verschwörungsideologisches Welterklärungsmodell. Stets basiert der Antisemitismus auf Vorurteilen darüber, was vermeintlich typisch jüdisch sei. Das Stereotyp „der Jude“ hat sich über Jahrhunderte im gesellschaftlichen Gedächtnis verankert und wird immer wieder in unterschiedlichen Kontexten reaktiviert, aufbereitet und aktualisiert.
In Abwehr der Ereignisse, die sich während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zugetragen haben, hat sich speziell in Deutschland ein Entlastungsantisemitismus entwickelt. Dieser resultiert unter anderem aus der Forderung, die dauerhafte Präsenz der damaligen Geschehnisse abhaken und die Schuld für die Taten nicht auf nachkommende Generationen übertragen zu wollen. Der Entlastungsantisemitismus präsentiert sich als Holocaustleugnung oder -relativierung, aber auch als Geschichtsrevisionismus, der das wissenschaftlich, politisch und gesellschaftlich allgemein anerkannte Geschichtsbild umzuschreiben versucht.
Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel richten. Es handelt sich hierbei um eine Umwegkommunikation, bei der antisemitische Stereotype und Deutungsmuster in der Kritik am israelischen Staat versteckt werden. Der israelbezogene Antisemitismus ist durch seine große Anschlussfähigkeit an unterschiedliche (extreme) politische und religiöse Ausrichtungen weit verbreitet.
Die Komplexität von Antisemitismus, die Hintergründe seiner Entstehung und seiner Erscheinungsformen erschweren es, ihn kurz und einfach zu erklären. Die International Holocaust Remembrance Alliance hat versucht, das Phänomen in einer allgemeingültigen Definition zusammenzufassen. Die Niedersächsische Landesregierung hat im November 2023 diese Arbeitsdefinition von Antisemitismus verabschiedet und damit als Grundlage seines Regierungshandelns übernommen. Damit wird ein einheitlicher Arbeitsbegriff geschaffen, der ressortübergreifend, etwa in den Bereichen Bildung, Justiz, Polizei und Schule, Orientierungshilfe beim Erkennen von Antisemitismus geben wird.
Religiöse Hintergründe:
Der Antisemitismus hat seinen Ursprung im religiös geprägten Antijudaismus. Um sich besser vom Judentum abspalten zu können, konstituiert das Christentum ein Feindbild: „den Juden“. Fortan gilt die Herabsetzung von jüdischem Leben und Glauben als ein integraler Bestandteil der christlichen Lehre. Es entstehen Legenden, die jüdische Menschen als dämonisch und böse darstellen (Legende vom Gottesmord, Legende vom Hostienfrevel oder Ritualmordlegende). Im später entstehenden islamischen Glauben dominieren ebenso degradierende Sichtweisen auf „die Juden“, die als ungläubige, nicht gleichwertige Menschen betrachtet werden. Im Koran werden sie oftmals mit tierischen Wesen verglichen.
Die sich aus den Religionen entwickelten Stereotype finden verschiedene Erscheinungsformen zu unterschiedlichen Zeiten, wie z.B. die Prägung durch den Nationalsozialismus in Deutschland. So werden sie immer wieder aktualisiert und inzwischen weltweit abgerufen.
Soziale Auswirkungen:
Die Etablierung der Judenfeindlichkeit im europäischen Raum wird vor allem durch die Christianisierung der Bevölkerung vorangetrieben. Es entwickelt sich in eine Form der Stigmatisierung und Absonderung jüdischer Menschen. [RC(2] So entstehen „Judenviertel“ und in vielen Gegenden werden der jüdischen Bevölkerung Kleiderordnungen aufgebürdet.
Es kommt zur Entmenschlichung von jüdischen Personen, die sich in der Schaffung von Tiermetaphern zur Beschreibung „der Juden“ zuspitzt. Im europäischen Raum ist die „Judensau“ eine der bekanntesten Symboliken dieser Zeit. Aber auch beruflich werden Jüdinnen und Juden stets eingeschränkt.
Entwicklung eines politischen Antisemitismus im 19. Jahrhundert:
Als Reaktion auf die krisenhafte Entwicklung der Moderne entsteht im 19. Jahrhundert der Antisemitismus als ein umfassendes Welterklärungsmodell, dessen Kern die wahnhafte Vorstellung einer „jüdischen Weltherrschaft“ ist. Es werden „den Juden“ Attribute, wie Machtgier, Kontrollwahn und Narzissmus zugeschrieben. Weltweit verbreitet sich die Legende von einer jüdischen Verschwörung, die in den Protokollen der Weisen von Zion festgehalten wird. In Krisenzeiten wird auch dieser politische Antisemitismus immer wieder aktualisiert und angewendet.
Rassenantisemitismus:
Infolge der Säkularisierung verbreitet sich die Annahme, dass es unterschiedliche Menschenrassen gäbe, die sich durch Merkmale, wie Abstammung, Kulturkreis, Religion oder Ästhetik definieren. Spätestens in der Wortschöpfung „Anti-Semitismus“ mündet dann der Versuch, auch den Hass gegenüber „den Juden“ pseudowissenschaftlich über die Rassentheorie zu begründen. Es wird behauptet, dass jüdische Menschen anderen Menschenrassen gegenüber nicht gleichwertig seien. In der Konsequenz führte das auch zur Vorbereitung des Holocaust.
Nationalismus:
Im Zuge der Nationalstaatenbewegung um die Jahrhundertwende wird „der Jude“ zu einer ethnischen, kulturellen und sozialen Minderheit der jeweiligen Nation erklärt, und ihm die Loyalität gegenüber dem Nationalstaat abgesprochen. Jüdische Menschen wurden zur Assimilation und zum Religionsübertritt gezwungen.
Kurz nach dem Holocaust will die Generation der Täterinnen und Täter einen Schlussstrich unter die Ereignisse der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ziehen, um nicht weiter mit ihrem Verhalten konfrontiert zu werden. Sie übertragen diese Forderung an die nachfolgenden Generationen, indem sie ihnen das Gefühl vermitteln, sie selbst würden nun zu Opfern einer „Schuldkultur“ gemacht. Dieser Mechanismus aus Schuldabwehr und -verschiebung bewirkt eine Form des Geschichtsrevisionismus und führt zur Verharmlosung und Leugnung der Shoah. Wie die weltweiten Reaktionen auf die Angriffe der Terrororganisation Hamas auf Israel am 07. Oktober 2023 deutlich machen, ist zudem anzumerken, dass der Holocaust keineswegs ein Ende des Antisemitismus bedeutet. Vielmehr zeigt sich hier die Anpassungsfähigkeit des Antisemitismus an die jeweilige Zeit.
Es ist legitim, konstruktive Kritik an staatlichen Entscheidungen oder Handlungen der israelischen Regierung zu üben. Der Staat Israel erfährt häufig jedoch weniger Kritik, als mehr Anfeindungen. So werden antisemitische Stereotype und Vorurteile auch auf den Staat Israel angewendet. Israel steht in solchen Gedankenkonstrukten als „das Kollektiv der Jüdinnen und Juden“, und nicht als ein Staat an sich. Jegliche Dämonisierungen, Delegitimierungen oder Konzepte der Vernichtung von Israel sind Antisemitismus; ebenso wie die Verantwortlichmachung von Jüdinnen und Juden für Handlungen der israelischen Regierung. Diese Form des Antisemitismus ist deutlich von politischer Kritik zu unterscheiden.
Verschwörungserzählungen haben oftmals einen antisemitischen Gehalt. Sie basieren auf der Grundannahme, dass es eine geschlossene Gruppe gäbe, die zur Erlangung und/oder Sicherung ihrer Macht aus dem Hintergrund die Politik, Wirtschaft, Medien und Finanzen zu kontrollieren versucht. Diese Gruppe wird oft als jüdisch markiert.
Um Antisemitismus früh erkennen und so besser bekämpfen zu können, ist es wichtig, die Gesellschaft und staatliche Organe dafür zu sensibilisieren, was als Meinungsäußerung toleriert werden kann und wo die Grenze zu Antisemitismus überschritten wird. Insbesondere die Abgrenzung von zulässiger Kritik am Handeln der israelischen Regierung und israelbezogenem Antisemitismus scheint im Alltag manchmal unklar zu sein. Die Definition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) liefert hier eine wertvolle Orientierung und ein nützliches – wenn auch nicht gänzlich unumstrittenes - Instrument bei der Einordnung von Fällen.
Die Definition lautet:
„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“
Die Definition entfaltet zwar keine rechtliche Bindungskraft, jedoch liegt mit ihr erstmals ein von einem zwischenstaatlichen Forum anerkannter Text vor, der als allgemeingültige Definition von Antisemitismus dessen Identifizierung und Bekämpfung erleichtern soll. Die Definition besteht aus der eigentlichen Definition von Antisemitismus und einer Reihe von erläuternden Beispielen, darunter auch die Abgrenzung von Antisemitismus und unterschiedlichen Formen der Kritik an Israel. Nähere Informationen hierzu sind im Handbuch zur praktischen Anwendung der IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus nachzulesen.
Die Bundesregierung hat im Jahr 2017 beschlossen, sich der internationalen Definition von Antisemitismus anzuschließen, und darüber hinaus folgende Erweiterung erklärt:
"Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein."