Feststellung eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung bei Schülerinnen und Schülern ohne ausreichende Deutschkenntnisse
Ein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung ist bei Schülerinnen und Schülern festzustellen, wenn zu erwarten ist, dass die Bildungsziele der Schulform oder die individuellen Bildungsziele nicht oder nur mit sonderpädagogischer Unterstützung erreicht werden können.
Bei der Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund sind jedoch oft zunächst Faktoren zu berücksichtigen, die sich nicht auf eine Behinderung oder eine drohende Behinderung beziehen: Unterschiedliche, unzureichende oder fehlende Bildungsangebote im Herkunftsland, kulturelle Unterschiede und nicht ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache können zu Lerndispositionen führen, die die schulischen Aneignungsprozesse (zumindest vorübergehend) erschweren. Dies darf nicht unreflektiert und vorschnell zur Einleitung eines Verfahrens zur Feststellung eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung führen.
Zudem können das Verständnis von Behinderung und der Umgang damit kulturell unterschiedlich geprägt sein. Im Rahmen der Arbeit mit den Erziehungsberechtigten ist es daher wichtig, diese Unterschiede zu berücksichtigen und sensibel darauf einzugehen. Im Prozess der Beratung der Erziehungsberechtigten sollte das Angebot außerschulischer Förder- und Unterstützungsmöglichkeiten miteinbezogen und erläutert werden. Häufig gibt es in den Herkunftsländern der Familien keine vergleichbaren Strukturen, sodass diesbezüglich eine Beratung und Begleitung notwendig sein kann. Hilfreiche Partner können hier u. a. Gesundheits- und Sozialämter, sozialpädiatrische Zentren sowie außerschulische Beratungsstellen oder (Früh-)Förderstellen sein.
Sowohl vor der Einleitung als auch bei der Durchführung eines Verfahrens zur Feststellung eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung bei Schülerinnen und Schülern ohne ausreichende Deutschkenntnisse kann bei allen relevanten Beratungsmaßnahmen der Einsatz einer geeigneten Person für die Sprachmittlung sehr hilfreich sein. Die Unterstützung durch Personen zur Sprachmittlung sollte von der Schule oder über den Schulträger organisiert werden, gegebenenfalls ist ein Honorar zu zahlen. Einige Kommunen und Landkreise in Niedersachsen vermitteln Ehrenamtliche aus einem Pool von Sprachmittlerinnen und Sprachmittlern, die für Gespräche mit Erziehungsberechtigten hinzugezogen werden können.
Im Vorfeld einer möglichen Einleitung eines Verfahrens zur Feststellung eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung müssen alle schulischen Fördermaßnahmen über einen angemessenen Zeitraum ausgeschöpft sein und nicht dazu geführt haben, dass die Schülerin oder der Schüler den Anforderungen entsprechend lernen kann.
Auch additive und integrative Sprachfördermaßnahmen im Bereich Deutsch als Zweit- und Bildungssprache und bei Bedarf Förderangebote in einzelnen Unterrichtsfächern und Lernbereichen berücksichtigen die individuelle Lernausgangslage. Sie bilden die Grundlage für eine individuelle Förderung. Den Schülerinnen und Schülern ohne ausreichende Kenntnisse in der deutschen Sprache wird so der Zugang zu Bildung und Teilhabe und damit das Erreichen allgemeiner oder individueller Bildungsziele ermöglicht.
Alle Fördermaßnahmen müssen auf angemessene Weise in der Dokumentation der individuellen Lernentwicklung und Förderplanung aufgeführt werden. Besonders die Sprachentwicklung in der Zweitsprache Deutsch muss über einen längeren Zeitraum beobachtet und dokumentiert werden. Möglichkeiten zur Veränderung der äußeren Bedingungen bei mündlichen und schriftlichen Leistungsfeststellungen sind anzuwenden.
Die Förderplanung wird regelmäßig evaluiert und fortgeschrieben. In angemessenen Abständen wird sie mit den Erziehungsberechtigten und den Schülerinnen und Schülern erörtert.
In einem ersten Schritt können die genannten Maßnahmen durch die schulinterne sonderpädagogische Beratung an allgemein bildenden Schulen unterstützt werden. Das Beratungs- und Unterstützungsangebot der Regionalen Landesämter für Schule und Bildung kann hinzugezogen werden. Insbesondere sind die Sprachbildungszentren (SpBZ) und die Regionalen Beratungs- und Unterstützungszentren Inklusive Schule (RZI) für diese Unterstützung zuständig. Eine Kooperation mit weiteren an der Förderung beteiligten Personen und Institutionen ist möglich und sinnvoll.
Sind alle diese Möglichkeiten ausgeschöpft und haben nicht dazu beigetragen, dass die Schülerin oder der Schüler allgemeine oder individuelle Bildungsziele erreichen kann, kann aufgrund einer Behinderung oder drohenden Behinderung das Verfahren zur Feststellung eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung eingeleitet werden.
Jede Entscheidung zur Verfahrenseinleitung muss demnach vor dem Hintergrund der individuellen Lebens- und Lernbiografie und der aktuellen Lebenssituation sorgsam abgewogen werden. Bei Schülerinnen und Schülern mit unzureichenden Kenntnissen der deutschen Sprache sind schon vor der Einleitung des Verfahrens die Auswirkungen der fehlenden Sprachkenntnisse auf den Lernerfolg zu betrachten.
Bei eingeschränkter sprachlicher Verständigung ist die Feststellung eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung mit besonderen Herausforderungen verbunden.
Vor und während des Verfahrens zur Feststellung eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung kann eine geeignete Person, z. B. eine herkunftssprachliche Lehrkraft, zur Sprachmittlung hinzugezogen werden. Diese übernimmt die Übersetzung in Gesprächen und der Unterlagen. Außerdem kann sie bei der Diagnostik des Sprachstands in der Familiensprache der Schülerin oder des Schülers unterstützen. Im Beratungsprozess muss berücksichtigt werden, dass unterschiedliche kulturelle Hintergründe bezüglich der Akzeptanz von Beeinträchtigungen und Behinderungen vorliegen und diese gegebenenfalls erschweren können.
Den Erziehungsberechtigten müssen die geltenden Bestimmungen sowie das Vorgehen hinsichtlich der Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen oder Behinderungen erläutert werden. Bei der Erstellung des Fördergutachtens durch die zuständige Schule sowie bei der Empfehlung der begutachtenden Lehrkräfte sind bei Schülerinnen und Schülern ohne ausreichende Deutschkenntnisse auch Aussagen zu folgenden Bereichen aufzunehmen:
- Sprachstandsanalyse
- Teilnahme an besonderen Fördermaßnahmen in Deutsch als Zweitsprache
- Kompetenzfeststellung in der Familiensprache (sofern ermittelbar)
- Stand der im Herkunftsland erworbenen Bildungsvoraussetzungen (sofern ermittelbar)
- spezifische Aussagen zur Lernentwicklung, die mit dem Elternhaus und/ oder der Migrationsgeschichte der Schülerin oder des Schülers zusammenhängen (sofern ermittelbar)
Hier benötigen die mit dem Gutachten beauftragten Lehrkräfte Zu- und Mitarbeit sowie Beiträge zu den Gutachten von den entsprechenden Stellen. Zur Kompetenzfeststellung in der Familiensprache kann eine herkunftssprachliche Lehrkraft unterstützen, sofern eine entsprechende Lehrkraft zur Verfügung steht. Die Beantragung geschieht über das zuständige Zentrum für Sprachbildung und Interkulturelle Bildung.